Gestern Abend, Konzertführer Klassik, Teil 2. Es stehen drei Werke auf dem Programm, und alle sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Den Anfang macht Pacific 231 von Arthur Honegger und die Frage, ob es sich um programmatische oder – wie von Honegger bezeugt – absolute, mathematisch orientierte Musik handelt. Die Lokomotive ist das eine, jeder hat sie vor seinem geistigen Auge, die Fahrt inklusive. Doch die Frage, was ist Tempo, was ist Metrum, was ist Geschwindigkeit, welche Funktion hat der Rhythmus, das ist das andere. “Wenn Sie nicht vorher gesagt hätten, dass wir eine Eisenbahnfahrt hören, hätte ich das nicht erkannt.”

Danach La Mer von Claude Debussy. “Hier ist viel mehr Wind und Meer als vorher Eisenbahn” lautet ein Kommentar, obwohl das Stück gar kein Meeresrauschen enthält. Debussy bildet den Charakter des Meeres ab, nicht das Meer selbst. Und, wie er einem Zeitgenossen schrieb, entstand das Stück aus Erinnerungen an das Meer, also ohne es real vor Augen zu haben: “Meiner Ansicht nach ist das mehr wert als eine Wirklichkeit, deren Zauber die Fantasie gewöhnlich zu stark belastet.”

Schließlich Tallis. Einstrahlungen für großes Orchester von Peter Ruzicka. Sofort die Frage nach der Schönheit. Da fehlt ja die Harmonie! Was ist daran Kunst? Erste Hilfe kann ich mit einem Blick auf andere Sparten und Gattungen leisten. Wir haben alle ein gutes Buch im Schrank stehen, das nach 1920 geschrieben wurde. Wir haben alle ein Bild an der Wand hängen (oder mögen eins), das nach 1920 gemalt wurde. Wir kennen alle ein Bauwerk, das uns beeindruckt und welches nach 1920 geschaffen wurde. Es ist allein von daher gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet in der Musik nach 1920 nichts Gescheites mehr komponiert worden sein soll! Und was soll das heißen, “es ist nicht schön”? Nur weil Dur und Moll fehlen, und weil es keine tradierten Melodie- und Harmoniemuster gibt, handelt es sich deswegen nicht um dekadente Tonkleckserei! Um das zu verstehen, brauchen wir aber keinen Acht-Wochen-Crashkurs, sondern eine mindestens zweijährige Grundausbildung, ähnlich wie in der Musikalischen Früherziehung. Gut, dass wir mal drüber geredet haben.