“Sollen wir schon reingehen, oder magst noch schauen?”, sagt ein älterer Herr zu seiner Begleiterin. “A bissl können wir schon noch schauen”, lautet die Antwort. Immerhin wollen all die ausgesuchten Garderoben auch gesehen werde. Die Operngänger ziehen sich angemessen an – oder zumindest so, wie sie es für angemessen halten.

München ist wahrscheinlich die einzige Stadt, in der man in der Oper dasselbe tragen kann wie auf der Wiesn. Das Festtagsdirndl ist besonders bei Frauen um die 50 beliebt. “Das Publikum zieht sich wieder besser an als früher, zu Jonas-Zeiten”, urteilt Frau Knappik, “man sieht kaum noch Jeans.” Stattdessen: “Junge Mädchen in kürzesten Röcken und höchsten Stilettos, für mich eine Freude, das zu sehen.”

Überhaupt, die jungen Menschen. Der Großteil der Besucher ist definitiv im Rentenalter, aber ein paar junge gibt es doch, die dafür verantwortlich sind, dass das Durchschnittsalter noch bei flotten 57 liegt. Die jungen Operngänger sehen entweder aus wie gut erzogene Töchter und Söhne oder wie Musikstudenten – aber nie wie beides gleichzeitig. (…)

Im Parkett sitzen Menschen, die für eine Opernkarte so viel Geld ausgeben wie andere für eine Woche All-inclusive-Urlaub in Bulgarien, wobei es zwischen diesen beiden Gruppen keine nennenswerte Schnittmenge geben dürfte. Auf den unbequemen altrosa Klappsesseln geht, solange das Licht anbleibt, das Schauen weiter. “Des is ja wieder a Who-is-who hier”, kommentiert eine Dame, nachdem sie von Reihe neun aus einem Bekannten in Reihe sechs gewinkt hat.

Den besten Blick aufs Publikum in seiner ganzen Masse und Pracht hat man von den Rängen aus. Hier sitzen diejenigen, die weniger aufs Gesehenwerden geben (denn man sieht sie unter den niedrigen Decken auch kaum) und dafür umso mehr auf die Musik. Sie geben sich beinahe ganz dem Hören hin – manchmal notgedrungen, denn besonders von der Seite sieht man von der Bühne gerade mal ein Eckchen. (…)

Die ersten Augenblicke nach dem Öffnen des Vorhangs sind die spannendsten, sie können viele Überraschungen hervorbringen. “Der singt ja Italienisch!”, wundert sich ein Mann im Trachtenjanker laut beim ersten Auftritt in “Aida”. Nun entscheidet sich, ob man den Abend mögen wird oder nicht. Große Teile des Publikums sehen das nämlich allein an Kostümen und Bühnenbild. Als bei der “Entführung aus dem Serail” Statisten mit Fußballschals um den Hals die Bühne betreten: deutlich hörbares Murren. Als sich die Eunuchen erst das Hemd, dann die Hose ausziehen: beinahe ungehaltenes Raunen. “Na, nicht schon wieder Nackerte”, fürchtet sich eine Frau. Erleichterung, als die Unterhosen anbleiben.

In der Pause wird bei Verlassen des Saals diskutiert: “So langsam kommt’s ja.” “Ich find’s schön, so modern” oder “So eine wunderbare Inszenierung, so konventionell!” Das Publikum drängt in die hübsch altmodischen “Erfrischungsräume”. Im WC-Vorraum mit der blauen Seidentapete drängeln sich vor Spiegeln Damen, die sich nachschminken, zupfen, richten und pudern, die Herren stehen derweil am Büfett an und kaufen, je nach Großzügigkeit, Sekt (5 Euro) oder Champagner (13,50 Euro), Tatarschnitten, Sachertorte oder “Operntoast” (Käse-Schinken).

An Frau Knappiks Stand steht ein Mann um die 60, mit Hut und Fliege, auf der Oberlippe ein sorgsam gestutztes Menjou-Bärtchen und kauft Netrebko-Postkarten, für die “Daheimgebliebenen”, sagt er. “Ich habe heute Mittag den ICE aus Köln genommen, dann war ich im Dürnbräu essen, gleich gibt’s hier noch was Schönes vom Käfer, nach der Vorstellung noch einen Absacker und dann mit dem ICE um 3.20 Uhr zurück. Das mach ich immer so.” Dann säuselt er rheinisch hinterher: “Die Operfans, die sind genauso jeck wie die Fußballfans.” (…)

Nach dem Applaudieren setzt sich das Münchner Publikum ins Taxi, die Tram, den Reisebus nach Bad Feilnbach oder Traunstein, manchmal auch aufs Radl, die Tiefgarage spuckt BMW, Porsches und Audis aus. Ein paar Getreue harren vor dem Bühneneingang aus, warten, oft bis zu einer Stunde, auf die Solisten, auf La Gruberova, die Netrebko oder den Kaufmann, um ein Autogramm zu kriegen oder Blumen zu überreichen.

Am unteren Ende der Treppenstufen des Nationaltheaters sitzt, wie fast nach jeder Vorstellung, ein Obdachloser. In der Mütze vor ihm liegen eine Euromünze und ein 50-Centstück. Verdient er was, am Münchner Opernpublikum? “Viel geben sie nicht”, sagt er und zeigt beim Lächeln seine Zahnlücken. “Aber ich bin da niemandem böse. Kleinvieh macht auch Mist.”
aus: www.sueddeutsche.de, 22.06.2011