Alle Opernliebhaber werden bejahen, dass die Geschichte, das narrative Element, oft eine absurde Note hat; nichtsdestotrotz ist die Handlung unverzichtbar. Es fällt uns offensichtlich schwer, mit ihr klarzukommen, aber es geht auch nicht ohne sie. Opern und die Geschichten, die sie erzählen, sind einander offenbar in einer unauflöslichen, wenn auch wenig harmonischen Symbiose verbunden. Keine Seite will die Trennung, aber ein konfliktfreies Zusammenwirken scheint so gut wie unmöglich zu sein. In diesem Sinn ähnelt die narrative Dimension offenbar der textlichen Dimension als Ganzer. Beide liefern uns anschauliche Belege dafür, dass die Oper die Fähigkeit besitzt, uns Dinge vergessen zu machen. Sie lässt uns vergessen, dass wir die Sprache, in der gesungen wird, nicht verstehen, dass das physische Äußere eines Sängers, der eigentlich einen glühenden und athletischen jungen Troubadour darstellen soll, aber mehr Ähnlichkeit mit einem 62-Jährigen als mit einem 26-Jährigen hat, überhaupt nicht zur Rolle passt; dass wir vielleicht nur eine vage Vorstellung davon haben, was sich auf der Bühne zuträgt. Opern kommunizieren mit uns auf eine seltsame, unvorhersehbare Art und Weise; sie sprechen etwas in uns an, das außerhalb unserer kognitiven Sphäre liegt.
aus: Carolyn Abbate und Roger Parker, Eine Geschichte der Oper – Die letzten 400 Jahre