“Die gefährlichste Weltanschauung ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben”, wusste schon Alexander von Humboldt . Was aufs Sehen oder Anschauen zutrifft, gilt ebenso gut für das Hören. Dass es manchen Zeitgenossen gefällt, sich zu allem und jedem zu äußern, ohne durch einschlägige Sachkenntnis vorbelastet zu sein – daran haben wir uns gewöhnt. Was aber, wenn jemand vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren mal ein Stück von Händel oder Haydn gehört hat, das Gehörte sterbenslangweilig fand und dieser Musik seither aus dem Weg gegangen ist? Wie wollen wir das Urteilsvermögen eines solchen Hörers bewerten? “Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?”, fragte Georg Christoph Lichtenberg. Wir können aber auch fragen: Wenn eine Musik langweilig klingt, liegt das allemal am Komponisten? Wenn unser fiktiver Hörer (in Wirklichkeit gibt es unzählige davon) heute dasselbe Stück hören würde, aufregend und berührend gespielt, vielleicht von Les Musiciens du Louvre oder von Le Concert d’Astrée – was würde er sagen? Vielleicht würde er erkennen, dass die Totgeglaubten ja leben – vor allem ihre Partituren! Vielleicht würde er sich an ein lange zurückliegendes, uninspiriertes Gefiedel erinnern und erstaunt feststellen: “Händel? Nie gehört.”