Verabredungen um eine bestimmte Stunde waren ihm unbehaglich. Er drückte sich um sie, wo immer er konnte. […] Freunde, die ihn pünktlich wünschten, mussten zu allerlei Listen und kleinen Schwindeleien greifen. Die hübscheste Anekdote hat sich in Saint-Jean-de-Luz abgespielt, wahrscheinlich in den zwanziger Jahren. Die kleine baskische Stadt hat einen Kirchenchor von hohem Rang, die Schola Cantorum. Ihr Leiter, der Organist Charles Lebout, hatte Ravels drei Chöre a cappella einstudiert, “Nicolette”, “Trois beaux oiseaux du paradis” und “Ronde”. Er wollte sie dem Komponisten vorsingen lassen. Man verabredete sich für Mittwoch um drei. Ravel war die Fixierung auf eine bestimmte Stunde peinlich. Er sprach von allen möglichen Plänen für Mittwoch, von einem Ausflug, einer Pelotapartie, nur nicht von der Chorprobe. Er wohnte im Haus Gaudin, Rue Gambetta. Die Damen des Hauses redeten ihm gut zu, man könnte doch nicht Lebout mit der ganzen Schola Cantorum warten oder gar im Stich lassen. Ravel schwieg und rauchte eine Zigarette. Dann ging er zu seinem Morgenbad an den Strand. Die Kinder des Hauses hatten den Vorgang beobachtet. Sie machten einen Kriegsplan. Mittags kam Ravel heim, den Bademantel übergezogen, wie er es gern hatte. Er machte sich zurecht und ging in das benachbarte Restaurant, die Grotte Basque, um zu frühstücken. Als er zurückkam, war es fünf Minuten vor drei. Vor dem Haus stand ein Schubkarren, umringt von Kindern. Anne, die kleine Haustochter und Ravels Liebling, machte einen Knicks und sagte: “Monsieur Ravel, Ihre Wagen sind zur Abfahrt bereit. Welchen wünschen Sie heute?” Ravel lachte entzückt. “Den Rolls-Royce”, sagte er, ließ sich von den kleinen Freunden zum Schubkarren führen, nahm Platz und fuhr mit Lachen und Hallo vor dem Haus vor, wo der Chor auf ihn wartete. Er bereute es nicht, sondern fand die Wiedergabe der schweren Chorstücke so vollkommen, dass er nichts geändert wünschte. Sein Reich war ein Kinderreich, und wo immer der Alltag mit der kühnsten Fantasie verbunden war, fand er in Ravel jede Bereitwilligkeit zur Illusion.
aus: H.H. Stuckenschmidt, Maurice Ravel – Variationen über Person und Werk

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