Eines Tages kam ich auf das Metronom und dessen Zweckmäßigkeit zu sprechen. “Wozu ein Metronom?” warf Herr Mendelssohn ein, “das ist ein recht überflüssiges Instrument. Ein Musiker, der bei dem Anblick eines Musikstückes nicht sofort dessen Zeitmaß errät, ist ein Stümper.” Ich hätte ihm erwidern können, dass es viele Stümper gibt; doch ich schwieg. Ich hatte damals fast noch gar nichts komponiert. Eines Tages wünschte er die Partitur der Ouvertüre zu “King Lear”, die ich schon in Nizza geschrieben hatte, zu sehen; er las sie zuerst aufmerksam und langsam durch, dann setzte er die Finger auf das Klavier, um sie zu spielen (was er mit unvergleichlichem Geschick tat), und sprach: “Geben Sie mir doch Ihr Tempo an.” “Wozu? Haben Sie mir nicht neulich gesagt, jeder Musiker, der beim Anblick des Stückes das Tempo nicht errät, sei ein Stümper?” Er wollte es sich nicht merken lassen, aber dieser Nachhieb oder vielmehr diese unerwarteten Kolbenstöße missfielen ihm sehr. Er benahm sich, sobald von Musik die Rede war, wie ein Stachelschwein; man wusste nicht, wo man ihn anfassen sollte, um sich nicht zu verletzen.
aus: Hector Berlioz, Erinnerungen – Beschreibung der Begegnung mit Felix Mendelssohn in Rom 1830/31

Wie schön, dieser letzte Satz! Ja, das gibt es in der Tat: Wir wissen nicht, wie wir jemanden anfassen sollen, weil wir uns verletzen werden, so oder so. “Er benimmt sich wie ein Stachelschwein” – herrlich! “Sie benimmt sich…” geht natürlich auch (und kommt genauso vor). Nebenbei bemerkt, hätten wir das Mendelssohn gar nicht zugetraut, diesem “Mozart der Romantik”, wie Schumann sich ausdrückte. Aber Vorsicht, Stachelschweine sind sensibel! Alle Schweine sind das (dass Stachelschweine Nagetiere sind, soll jetzt keine Rolle spielen). Besonders empfindsam zu sein wäre also eine echte Sauerei…