Nach dem Mittagessen geht es nach Kassel ins Staatstheater. Strawinskys The Rake’s Progress ist die einzige abendfüllende Oper des Komponisten. Kurt Pahlen bezeichnet sie als „tonales“ Werk beinahe ohne Dissonanzen, als „echte Gesangsoper“ mit „Rückkehr zur Melodie“. Das mag durchaus richtig sein, doch Strawinsky ist ein Komponist, bei dem man sich nie zu sicher sein sollte – in mehrfacher Hinsicht. Seine Lust, Regeln zu brechen und Hörerwartungen zu enttäuschen, ist legendär. Als Meister der Parodie serviert er der Zuhörerschaft mit Vorliebe ein Menü von vermeintlicher Sicherheit, um dann mit eigenen Gewürzen und Zutaten aufzuwarten. So klingt manches in The Rake’s Progress auf den ersten Blick (auf das erste Hören!) rückwärts gewandt: Belcanto-Entlehnungen bei Rossini und Bellini, Verwendung des Cembalos wie bei Mozart, Da-capo-Arien wie zur Barockzeit. Doch Strawinsky schreibt keine reminiszente Musik zum Selbstzweck. Dadurch, dass er seine Arien und Chöre so klingen lässt, als seien sie Stilkopien von hoher technischer Fertigkeit, erweckt er den Eindruck, dass nicht Menschen, sondern Marionetten auf der Bühne stehen. C’est ça! Schließlich gerät unser Held, Tom Rakewell, immer mehr unter den Einfluss seines mephistophelischen Gegenübers Nick Shadow (!) und agiert zunehmend fremdbestimmt, bis zum Tod im Irrenhaus. Danach folgt die Demaskierung, ohne Perücken und falsche Bärte, gesungen von allen Beteiligten, der Transfer in unsere Zeit. Mal sehen, was das Staatstheater Kassel daraus macht.